Brief an junge Juristen

Es ist Zeit, liebe Kolleg*in, 

dich einzuweihen in die nur mäßig geheim gehaltene Abrede, den dunklen Schwur, den alle Kollegen vor und nach dir zur unabdingbaren Geschäftsgrundlage des Juristenseins erklären. Die Zeiten, in denen man für dieses Gelübde oder die Einführung in den Juristenstand noch nachts mit Kerzen und in lange, weite, den Gesetzesband verbergende Roben gehüllt in den Keller des juristischen Seminars herabstieg und Eide auf Justitia leistete, sind seit Lockerung der Formerfordernisse (also seit Anpassung des §126 Abs. 3 BGB) nutzlose Tradition; nicht einmal ein Fingerabdruck des eigenen Blutes auf Pergament wird mehr benötigt. Der Konsens hingegen verbleibt und mit ihm das Bedürfnis, diesen den hinzukommenden Mitgliedern verständlich zu machen.

Er lautet: Wir Juristen werden fortan Wissen, Fähigkeiten und Kräfte daran ausrichten, die ganze Welt so kompliziert erscheinen zu lassen, dass Bedürfnis und Notwendigkeit stetig ansteigen, immer mehr Juristen zu beschäftigen.

 

Wir Juristen sind über Generationen mit diesem unheiligen Konsens über alle juristischen Berufsgrenzen hinweg und unbeschadet ansonsten widerstreitender Interessen hervorragend gefahren. Während es früher jedoch ausreichte, Streithähne in ihrer Überzeugung, im Recht zu sein, zu bestärken (oder ihnen diese Überzeugung überhaupt erst nahezulegen) und im öffentlichen Bereich Verwaltungsverfahren zu verkomplizieren, war die wichtigste Errungenschaft seit der Jahrtausendwende die Einführung von Compliance-Pflichten in Unternehmen. Renitente Manager, die ihre Syndikusanwälte vorher verdonnerten, die Bedenken auf einer PowerPoint-Seite zusammen zu fassen, um sie dann ungelesen ablegen zu können, wurden mit Bußgeldandrohungen und persönlichen Inhaftierungen davon überzeugt, dass die Einhaltung von Gesetzen sehr wohl ein Selbstzweck ist. Die erfolgreichen Macher der DSGVO setzen sich gleich an die Arbeit für das nächste internationale Meisterwerk aus unmittelbar wirkenden Verordnungen mit drei Buchstaben: CRA, DSA, DMA, DGA, KIO, NIS2. Die Arbeit und die Juristenstellen vermehrten sich wie Bakterien.

Trotz rückläufiger Studierendenzahlen und Anwaltszulassungen wuchs das Potenzial für jene, die von den neuen Märkten auf der einen oder anderen Seite profitieren konnten. Ein wenig bedauerlich war jedoch, dass dieser Effekt in den eher weniger flexiblen Arbeitsmärkten der öffentlichen Hand nicht zu mehr Stellen, sondern nur zu unbezahlten Überstunden für die Bearbeitung von massenhaft generierten Querulantenklagen führte. Es wäre jetzt die Gelegenheit, mit Blumen-Emoji zur Einführung in den Juristenstand zu gratulieren und noch ein paar Hinweise zu übermitteln, wie man entweder von der kompletten bestehenden Komplexität des Rechtswesens profitiert oder, im Sinne aller Kollegen, zur weiteren Steigerung beiträgt. Wir müssen heute, ohne gleich in Panik zu verfallen, ein paar warnende Entwicklungen ansprechen, die Auswirkungen auf deine nächsten Wahlentscheidungen haben könnten. Unser Erfolgsmodell basierte darauf, dass Menschen in der Tendenz gleichzeitig ängstlich und faul sind, zugänglich für rechtliche Gefahren und abgeneigt, diese selbst zu beurteilen. Sie brauchten uns Juristen selbst dann, wenn zum dreißigsten Mal eine standardisierte Geheimhaltungsvereinbarung verhandelt werden sollte, oder wenn im wortreichen Kooperationsvertrag eine Klausel drei Negationen und vier hypotaktische Schachtelebenen enthält, die dann am besten noch auf ein externes Gesetz verweisen. Genau hier konnten wir juristische Überlegenheit formvollendet vorführen. Doch wir müssen wachsam sein. Computer erreichen inzwischen das juristische Niveau eines Repetitoriumskunden, der sich auf das erste Staatsexamen vorbereitet. Bisher durften wir Juristen alberne Computerprogramme, die mit dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ interessanter klingen sollten, müde belächeln. Sie waren als regelbasierte Expertensysteme unflexibel und nervig in der Eingabe, als heuristische Systeme mit der Trefferwahrscheinlichkeit von knapp über dem Münzwurf unzuverlässig und letztlich wegen fehlender Menschlichkeit und Intuition ohnehin niemals dem Menschen ebenbürtig; von Haftung und Berufsrecht ganz zu schweigen. Diese letzten Bastionen halten allerdings nicht mehr lange und ein jeder Jurist überlegt sich derzeit, ob die Zeit bis zur Rente für das verbleibende Geschäft ausreicht oder ob die Jurist*in von heute noch etwas anderes lernen muss als die Hemmer-Methode bei der Klausurlösung.

Wenn du den Text bis hier noch nicht weggelegt hast, könnte ich jetzt in schillernden Anekdoten nachholen, was mich als junger Jurist an Jura fasziniert und auf den heutigen Weg gebracht hat. Das sparen wir uns, denn die erste Lektion im KI-Zeitalter lautet: Es lohnt sich nicht, etwas zu formulieren, was eine KI genauso gut reproduzieren kann. Wenn schon anekdotisch, fokussieren wir lieber auf Gegenwart und Zukunft.

Ich betreibe eine IT-Kanzlei in Würzburg mit über 50 Mitarbeitern, davon mehr als die Hälfte Rechtsanwälte. Anders als in den vergangenen Jahren suchen wir gerade nicht nach jungen Juristen als wissenschaftliche Mitarbeiter oder studentische Hilfskräfte, denn diese Aufgaben hat künstliche Intelligenz zum größten Teil übernommen und Bedienung und Training übernehmen jene Kollegen, die vorher eingestiegen waren. Das könnte sich wieder ändern, aber ich schreibe dir heute nicht, um Recruiting zu betreiben.

Wir hatten in den letzten drei Jahren mit freundlichen Mitteln des Bayerischen Wirtschaftsministeriums Grundlagenforschung zu künstlicher Intelligenz betrieben. Ohne den Druck, als Start-up ein vermarktungsfähiges Produkt entwickeln zu müssen, haben wir Prototypen entwickelt, die juristische Probleme mit verschiedenen KI-Methoden lösen. Immer wieder hat uns die Technologie dabei überholt und jene Lösungen, die wir mühsam ausgearbeitet hatten, über den Haufen geworfen, indem sie bei typischen Dauerbrennerfragen out of the box schon zu besseren Ergebnissen kam: Ist ein Vertrag günstig und wirksam, stellt ein Social Media Beitrag eine üble Nachrede dar oder wie erkläre ich dem User, dass es irrelevant für die gesetzliche Erbfolge ist, wie viele Geschwister er hat, solange er noch lebende Kinder hat?

Unser studentischer Praktikant vergleicht gerade die Leistung von verschiedenen LLMs (ChatGPT 4o1, Claude, Deepseek, Llama 3.2) bei juristischen Multiple Choice Fragen und fortgeschrittenen Klausuren. ChatGPT hatte bei den ersten 30 Multiple Choice Fragen vier Fehler bzw. Abweichungen von der Musterklausur. Die Hälfte der Abweichungen war bei näherer Betrachtung im Anbetracht des begrenzten Sachverhaltes auch als richtig zu werten. Bei der Klausurlösung, wo die LLMs bei richtigem Prompt unbegrenzt argumentieren und mit Wissen glänzen konnten, waren sie nochmal besser. Defizite entstanden, wenn das IPR-Problem zum anwendbaren nationalen Recht nicht problematisiert wurde. Lässt man die KI hingegen erst alle denkbaren Probleme identifizieren und erst im nächsten Schritt ausformulieren, kommt die KI locker auf zweistellige Klausurergebnisse. Der Praktikant warf bei der Präsentation der Ergebnisse die Frage auf, warum er eigentlich noch studiere, und diese Frage kann und muss man beantworten.