Kaum ein Begriff ist in der deutschen Sprache so negativ besetzt wie das Wort „Nazi“. Immer wieder wird der Begriff in politischen Debatten als drastische Form der Kritik verwendet – manchmal bewusst provokant, manchmal als bloßes Schimpfwort. Doch ab wann überschreitet diese Bezeichnung die Grenze der zulässigen Meinungsäußerung hin zur strafbaren Beleidigung? Die Rechtsprechung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu dieser Frage deutlich entwickelt.
Historische Entwicklung der Rechtsprechung
Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg befasste sich die Rechtsprechung mit dem Begriff „Nazi“. So erkannte das OLG Düsseldorf im Jahr 1947, dass die Bezeichnung als „besonders zeitgemäßes Schimpfwort“ verstanden werden könne (OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.07.1947 – 4 U 131/47, NJW 1947/48, 386). Wenige Jahre später wurde die Bezeichnung „alter Nazi“ vom selben Gericht (andere Kammer) als strafbare Formalbeleidigung bewertet (OLG Düsseldorf, Urt. v. 05.03.1970 – 1 Ss 24/70, NJW 1970, 905). Besonders streng wurde die Verwendung des Begriffs in Bezug auf Politiker oder Amtsträger beurteilt. So sah das OLG München in einer Karikatur, die einen Politiker mit Nationalsozialismus in Verbindung brachte, eine schwere Ehrverletzung (OLG München, Urt. v. 10.02.1971 – 12 U 2775/70, NJW 1971, 844).
Das OLG Frankfurt a.M. stellte im Jahr 1995 fest, dass die Bezeichnung einer Person als „Nazi“ dann nicht zulässig sei, wenn sie ausschließlich der Herabwürdigung diene (OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 20.12.1995 – 17 U 202/94, NJW-RR 1996, 1050). Dabei hob das Gericht hervor:
„Der Begriff des deutschen Nationalsozialismus ist aufgrund der konkreten historischen Entwicklung in Deutschland geprägt worden und inhaltlich in einer Weise negativ belastet, die keinen Raum für eine Diskussion lässt, ob und inwieweit eine – auch nur teilweise – Akzeptanz einer solchen Ideologie vertretbar ist.“
Trotz dieser strengen Linie gab es schon in den 1990er-Jahren erste Entscheidungen, die stärker die Meinungsfreiheit betonten. So wurde etwa die Bezeichnung einer Religionsgemeinschaft als „Nazi-Sekte“ in einer Pressemitteilung als zulässige, wenn auch polemische Meinungsäußerung, bewertet (OLG Hamburg, Urt. v. 31.10.1991 – 3 U 22/91, NJW 1992, 2035).
Keine automatische Beleidigung – die Bedeutung des Kontexts
Heute folgt die Rechtsprechung der Linie, dass die Bezeichnung als „Nazi“ nicht pauschal als Beleidigung zu werten ist. Nach einem Beschluss des OLG Stuttgart aus dem Jahr 2022 (OLG Stuttgart, Beschluss v. 19.07.2022 – 4 Rv 26 Ss 366/22) ist der Begriff nicht automatisch eine strafbare Formalbeleidigung. Entscheidend ist, ob die Äußerung im Rahmen einer sachlichen Auseinandersetzung steht, also mit Bezug zu konkreten Tatsachen und erkennbar inhaltlicher Kritik oder ob sie ausschließlich der Diffamierung dient.
So urteilte das LG Hamburg im Jahr 2017 dass die Politikerin Alice Weidel in der NDR-Satiresendung „extra 3“ die Bezeichnung als „Nazi-Schlampe“ zu billigen habe. Der sachliche Zusammenhang überwog: Das Persönlichkeitsrecht müsse in diesem Fall hinter der Meinungsfreiheit zurücktreten. Schließlich handle es sich bei ihr um eine bekannte Politikerin, die mit ihrer provokanten Aussage „Die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte“ selbst den Anlass geschaffen habe. In diesem konkreten, satirischen Kontext sei die Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt (LG Hamburg, Beschluss v. 11.05.2017, Az.: 324 O 217/17).
Insofern hat auch das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass der Begriff „Nazi“ im politischen Meinungskampf unterschiedlich verwendet wird – von einer historischen Beschreibung über eine politische Zuschreibung bis hin zum bloßen Schimpfwort. Maßgeblich ist daher immer der konkrete Kontext (BVerfG, Beschluss v. 19.12.1991 – 1 BvR 327/91, NJW 1992, 2013).Der zu entscheidenden Verfassungsbeschwerde lag u. a. ein Urteil eines AG zugrunde. In seiner Entscheidung betonte das AG, dass im Rahmen der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) auch scharfe, polemische und emotional gefärbte Aussagen geschützt sein könnten, insbesondere dann, wenn sie einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung leisteten. Der Begriff „Nazi“ sei nicht per se eine Formalbeleidigung, sondern könne, je nach Zusammenhang, Ausdruck politischer Auseinandersetzung sein. Das gelte insbesondere dann, wenn die Äußerung einen erkennbaren inhaltlichen Bezug zum Verhalten oder zu den Überzeugungen des Adressaten aufweist. Die Verfassungsbeschwerde hatte im wesentlichen Erfolg.
Das BVerfG hob in seiner Entscheidung hervor, dass eine sorgfältige Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) erforderlich ist. Maßgeblicher Prüfmaßstab ist dabei, ob die Äußerung noch als Werturteil mit sachlichem Bezug im Rahmen gesellschaftlicher oder politischer Kritik erkennbar ist oder ob sie vorrangig der persönlichen Herabwürdigung dient.
Die Entscheidung unterstreicht: Auch provokante politische Aussagen dürfen nicht vorschnell kriminalisiert werden. In einer lebendigen Demokratie muss Raum für überspitzte Formulierungen und polemische Zuspitzungen bestehen – solange diese nicht die Schwelle zur bloßen Diffamierung überschreiten. Wo diese Grenze verläuft, lässt sich nicht abstrakt festlegen, sondern muss stets aus dem konkreten Aussagekontext heraus bestimmt werden.
Politiker und Amtsträger müssen mehr Kritik aushalten
Besonders relevant ist die Rechtsprechung in Bezug auf Personen des öffentlichen Lebens. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Urt. v. 14.03.2013 – 26118/10) und das Bundesverfassungsgericht (etwa hinsichtlich der Grenzen zulässiger Kritik an einem mit eigenen Wortmeldungen bewusst in die Öffentlichkeit getretenen Politikers, BVerfG, Beschluss v. 21.03.2022 – 1 BvR 2650/19, HRRS 2022, 569) haben mehrfach entschieden, dass Politiker und Amtsträger aufgrund ihrer öffentlichen Funktion und des aktiven Beitrags zum politischen Diskurs weitergehende Kritik hinnehmen müssen. Das OLG Stuttgart geht sogar einen Schritt weiter und stellt fest, dass einem im öffentlichen Meinungskampf stehenden Politiker grundsätzlich härtere Äußerungen wie “Nazi” zuzumuten sind, auch wenn sie kein Regierungsamt bekleiden, solange die Diffamierung der Person bei Verwendung des Wortes nicht im Vordergrund steht (OLG Stuttgart, Beschluss v. 19.07.2022 – 4 Rv 26 Ss 366/22).
Wann wurde die Bezeichnung als „Nazi“ als zulässig eingestuft?
In der jüngeren Rechtsprechung gab es verschiedene Fälle, in denen die Bezeichnung rechtlich zulässig war:
- Instagram-Kommentar unter Post von AfD-Politiker: „Wer braucht den Nazi in Eningen???“ – im politischen Kontext zulässig (OLG Stuttgart, Beschluss v. 19.07.2022 ─ 4 Rv 26 Ss 366/22)
- Berichterstattung über Montagsdemonstrationen: Die mittelbare Bezeichnung abgebildeter Personen als „Nazi“ wurde als zulässig angesehen, sofern eine Verbindung zu deren bekannten politischen Aktivitäten bestand (LG Lüneburg, Urt. v. 02.05.2016 – 4 O 76/16)
Die Rechtsprechung scheint den Begriff im Kontext von politischen Auseinandersetzungen mit rechtspopulistischen Politikern als zulässig einzustufen, solange die Diffamierung der Person, nicht im Vordergrund steht. Da Gerichte in der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten immer den Kontext der Situation bewerten, kann „Nazi” im Einzelfall dennoch eine strafbare Beleidigung darstellen.
Der Begriff „Nazi“ bleibt eine verbale Grenzmarke, historisch aufgeladen, juristisch sensibel, politisch umkämpft. Wer ihn verwendet, sollte wissen, was er sagt und warum. Denn in der rechtlichen Bewertung zählt nicht die Lautstärke, sondern ob ein Argument sachlich verankert und kontextuell vertretbar ist.